2.3.4 Intergalaktische KonzepteUnterschiedliche nationalstaatliche Rechtsauffassungen führen dazu, daß Äußerungen in einem Land unter Strafe stehen, während sie in anderen Staaten durch das Recht auf freie Meinungsäußerung geschützt sind. Der in Kanada lebende Ernst Zündel beispielsweise kann auf seiner Homepage ungehindert den Holocaust leugnen, während auch deutsche Internetnutzer Zugriff darauf haben. Ähnliche Konstellationen sind in zahlreichen Variationen und zu den unterschiedlichsten Themen denkbar. Das genannte Beispiel verweist nicht nur auf Schwierigkeiten der Durchsetzung nationaler Rechtsvorstellungen in einem globalen Raum wie dem Internet, sondern auch auf kulturelle Eigenarten, die im Kontext eines weltumspannenden offenen Mediums mehr und mehr in ein neues Spannungsfeld geraten und auf eine Stimmung, in der tief verwurzelte Moralvorstellungen in Frage gestellt werden. Die Bewertung sexuell freizügiger Darstellungen beispielsweise dürfte in Saudi-Arabien mit Sicherheit negativer ausfallen als in Dänemark oder Holland.
Abbildung 5: Unterschiedliche Moralvorstellungen(1) Ausschließlich national wirksame Regelungen greifen wegen der strukturellen Eigenheiten des Internet ohnehin zu kurz. Internationale Regelungen und Übereinkünfte erscheinen deswegen auf Dauer in gewissen Bereichen unabdingbar (z.B. bezogen auf die weltweite Ächtung und grenzüberschreitende Verfolgung von Kindesmißbrauch) - sofern man sich bei der Durchsetzung des Jugendschutzes oder anderer Schutzrechte nicht gegen den Rest der Welt abschotten und das Prinzip eines offenen Datennetzes grundsätzlich in Frage stellen will. Zum Aspekt der Internationalität äußert sich der Jurist Ulrich Sieber:
Unklar bleibt jedoch, wie internationale Regelungen aussehen müßten, um auf breite Zustimmung bei den Staaten, mit ihren teilweise kraß unterschiedlichen kulturellen Hintergründen, zu stoßen. Schon da, wo Verweise in Form von Hyperlinks auf hierzulande strafbewährte Inhalte zeigen, die sich selbst jedoch auf einem ausländischen Server befinden, ergeben sich in diesem Zusammenhang etliche Fragen. Beim Versuch beispielsweise, die Verbreitung einer elektronischen Ausgabe der linksextremen Zeitschrift radikal zu unterbinden, kam es im September 1996 zu einer Komplett-Sperrung des niederländischen Providers xs4all durch deutsche Provider.(3) Die einzigen Effekte dieser Blockade waren eine bis dahin unbekannte Publicity für dieses in Holland völlig legale und ansonsten von der Öffentlichkeit wenig beachtete Magazin (die beanstandete Ausgabe wurde innerhalb kürzester Zeit weltweit von etlichen Servern gespiegelt und war dadurch besser zugänglich als vor der Sperrung), der wirtschaftliche Schaden für den holländischen Provider (ca. 6000 andere Seiten von xs4all-Kunden waren von Deutschland aus ebenfalls blockiert) und ein erheblicher Schaden für das Ansehen Deutschlands in der Welt.
Wohin fehlende Rechtssicherheit und der Versuch, den freien Fluß der Daten im Internet zu unterbrechen, führen und welche Ergebnisse dabei zu erwarten sind, verdeutlicht anschaulich die folgende Zeittafel:
Abbildung 6: Kontrollversuche im Internet (12/95 - 09/96)(5) Trotz der erwiesenen technischen Unmöglichkeit, den Zugriff auf einzelne Inhalte im Internet selektiv zu verhindern, wiederholte sich die oben beschriebene Sperrung von xs4all im April dieses Jahres erneut. Diesmal erfolgte sie durch das Deutsche Forschungsnetz (DFN), an das die deutschen Hochschulen und Forschungseinrichtungen mit mehr als 500.000 Nutzern angeschlossen sind. Aufgrund eines Hinweises aus dem Bundeskriminalamt, entschloß man sich beim DFN am 11.04.97 zu einer erneuten Komplett-Blockade des holländischen Providers, die schon nach etwa einer Woche mit den bekannten Resultaten wieder aufgegeben wurde.
Betrachtet man derart aufgeregte Bemühungen, so stellt sich die Frage, wie lange es wohl noch dauern wird, bis Verantwortliche der jüdischen Nizkor-Organisation(6) hierzulande vor Gericht stehen, weil sie auf der Homepage ihrer deutschen Mirror-Site(7) im Rahmen ihrer Aufklärungsarbeit auf die WWW-Seiten bekannter Leugner des Holocaust verweisen.(8)
In Kenntnis der Verhältnisse im Internet sprach Andy Müller-Maguhn am 09.10.96 auf einer gemeinsamen Anhörung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und der Enquete-Kommission Zukunft der Medien" von einer Bewußtseinsbildung", die sich im Netz vollziehen müsse, so daß die Problemfälle schon von daher zurückgehen. Das Mittel der Wahl sei demnach die Selbstregulierung" des Netzes. Ansonsten bedürfe es intergalaktischer Konzepte", um nicht bereits in drei Jahren überholt" zu sein.(10) (1) Illustration aus Elmer-Dewitt, Philip, Battle for the Soul of the Internet, Time International, No. 30, 25.07.1994, S. 50 (2) Sieber, Ulrich, Strafrechtliche Verantwortlichkeit für den Datenverkehr in internationalen Computernetzen - Neue Herausforderungen des Internet, <http://www.jura.uni-wuerzburg.de/lst/sieber/article.htm>, auch erschienen in: Juristenzeitung, Heft 9 und 10, 1996 (3) Diese Blockade erfolgte nicht etwa aufgrund einer gerichtlichen Anordnung, sondern allein aufgrund eines Hinweises der Bundesanwaltschaft an ECO (die größte Vereinigung kommerzieller Internetanbieter in Deutschland) und stellt damit den Versuch dar, eine, staatliche Eingriffe vorwegnehmende, Form von Selbstkontrollinstitution im deutschen Teil des Internet zu etablieren. (4) Öffentliche Stellungnahme des FITUG e.V. vom 19.09.96, <http://www.fitug.de/news/presseerkl.html> (5) Übersicht nach Möller, Ulf, <http://www.fitug.de/ulf/zensur/96.html> (6) Nizkor pflegt die weltweit größte Datenbank über den Holocaust und die Judenverfolgung: <http://www.nizkor.org> - deutsche Mirror-Site: <http://www1.de.nizkor.org/~nizkor/>. Erklärtes Ziel von Nizkor ist Aufklärung und Information, um so z.B. der in Neonazi-Kreisen verbreiteten Auffassung von der Auschwitz-Lüge argumentativ begegnen zu können. (7) Mirror-Site = Spiegelung von Daten an einem anderen Ort im Netz; dient normalerweise der Entlastung viel besuchter Plätze im Internet, kann aber auch benutzt werden, um andere Störungen zu umgehen. (8) Die Deutsche Angela Marquardt, die auf ihrer Homepage einen Hyperlink auf die radikal installiert hatte, wurde deswegen am 09.01.97 angeklagt. Die Anklageschrift und weitere Informationen zum Fall Marquardt können im Internet eingesehen werden: <http://yi.com/home/MarquardtAngela/> (9) Axel H. Horns <Horns@t-online.de> in: Subject: SPD und Internet: Ein Tauss macht noch keinen Fruehling, Date: 28. April 1997, Newsgroup: de.soc.netzwesen, Message-ID: <5k333o$4o4$1@news00.btx.dtag.de> (10) Dokumentiert von Piwinger, Boris <3.14@Uni-Bonn.DE> in dem Bericht: Intergalaktisches Konzept?, <http://www.fitug.de/netpol/Digest-01.html> |