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2.1 Demokratische Qualitäten und Veränderungspotentiale

Im ersten Jahresbericht des Forums Informationsgesellschaft finden sich Feststellungen zu den demokratiefördernden Potentialen der IKT:(1)

Eine Mehrheit des Forums vertritt die Ansicht, daß bei den meisten Diskussionen über die Informationsgesellschaft die Umstände ihrer kommerziellen Nutzung im Vordergrund stehen und der Wahrung demokratischer und individueller Freiheitsrechte nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Die neuen Techniken könnten außerordentlich positive Folgen für unsere Demokratien und die Persönlichkeitsrechte haben. Sie könnten:

  • Meinungs- und Informationspluralismus garantieren
  • das Recht der Bürger auf Zugang zu öffentlichen Informationen stärken
  • einen augenblicklichen Zugang zu solchen Informationen ermöglichen
  • den Bürgern eine weitergehende Teilnahme an der politischen Willensbildung und eine größere Kontrolle über das Handeln von Regierungen einräumen
  • Menschen die Möglichkeit geben, aktive Informationslieferanten statt passive Verbraucher zu werden
  • den Schutz der Privatsphäre und die Anonymität persönlicher Kommunikation und Transaktionen verbessern.

Richtig angewandt, kann die Informationstechnik die Macht der Bürger und ihrer Gemeinschaften stärken."(2)

Um diesen Möglichkeiten Ausdruck zu verschaffen wurden folgende Handlungsempfehlungen an die Kommission und die Mitgliedsstaaten ausgesprochen:

„Empfehlungen an die Europäische Kommission:

9) Es sollte ein Informationsaktionsplan entwickelt werden, der eine verstärkte Sensibilisierung der Öffentlichkeit und eine intensivere Teilnahme an demokratischen Prozessen auf europäischer Ebene zum Ziel hat. Ein solches Programm könnte folgende Maßnahmen umfassen:

  • ein Projekt zur Information europäischer Wähler
  • ein Projekt zur Information europäischer Verbraucher
  • ein Informationsprojekt zur europäischen Sozialcharta
  • eine europäische Business-Hotline
  • europäische elektronische Informationszentren
  • die Möglichkeit zu einem preisgünstigen Online-Zugriff auf alle offiziellen EU-Dokumente
  • eine Untersuchung über den aktuellen Stand der 'elektronischen Demokratie' in Europa, insbesondere mit Blick darauf, wie sich eine stärkere Mitwirkung der Öffentlichkeit aus privaten oder öffentlichen Mitteln finanzieren läßt.

10) In allen Mitgliedsstaaten sollte mittels entsprechender Gesetze das Recht auf Zugang zu öffentlichen Informationen garantiert werden; soweit eine Harmonisierung nötig ist, sollte sie auf der Basis der bisher weitestgehenden Offenheitsstandards in Europa erfolgen."(3)

Im Bericht der Bundesregierung „Info 2000 - Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft" (4) findet die Förderung politischer Bürgerbeteiligung im Gegensatz zum Handlungsfeld „Stärkung des marktwirtschaftlichen Ordnungsrahmens und Fortentwicklung der rechtlichen Rahmenbedingungen" jedoch kaum Berücksichtigung.

Es stellt sich deshalb die Frage, ob eine Erweiterung der repräsentativen Demokratie um direktdemokratische Strukturen, wie sie die IKT vermitteln könnte, seitens der politischen Entscheidungsträger in Deutschland überhaupt gewünscht ist. Der Soziologe Rainer Rilling kommt unter dem Eindruck der zahlreichen politischen Strategie- und Handlungspapiere seitens der EU und der Bundesregierung zu folgender Schlußfolgerung:

„[...] mögliche Transformationen des politischen Systems durch die Entwicklung des neuen Massenmediums und Informationsraums Netz werden nicht thematisiert, in ein unpolitisches Problem der Verwaltungsrationalisierung verwandelt oder als Bedrohung des parlamentarischen Modus indirekter Demokratie perzipiert."(5)

Mittels des Internet können heute noch keine politischen Entscheidungen herbeigeführt werden. Voraussetzung hierfür wäre die Implementierung direktdemokratischer Strukturen, z.B. in Form elektronischer Wahlverfahren. Dazu bedürfte es jedoch offener Zugangsmöglichkeiten für alle Bürger und geeigneter Authentifizierungsverfahren.

Politische Meinungsbildungsprozesse und daraus resultierende Beschlüsse könnten jedoch schon heute durch öffentliche Information und Diskussion verstärkt auch im Internet transparent gemacht werden.

Liest man die Hamburger Erklärung zur Informationsgesellschaft der IMD,(6) so relativieren sich die bisherigen Ansätze bundesdeutscher Politikpräsenz im WWW:

„Sicher ist die schleppende und nachhinkende Selbstausstattung des Staats mit E-Mail-Adressen, Feedback-Icons oder WWW-Servern mitsamt bürgernahem Chat gerade für die Bundesrepublik Deutschland ein tatsächlicher Fortschritt in Sachen Zugänglichkeit und Transparenz. Doch die bisherigen Äußerungen der Bundesregierung oder des Technologierates sind zugleich von der Angst vor dem 'direktdemokratischen' Potential der neuen Technik gesellschaftlicher Kommunikation bestimmt. Die Rede ist vom 'plebiszitären Damoklesschwert über den Köpfen der Parlamentarier' (Rüttgers). Für sie kann die - elektronisch vermittelte - Beteiligung der Bürger offenbar nicht eng genug begrenzt werden - gerade mal auf ein paar Sachfragen der Kommunalpolitik. Ein solcher Ansatz greift zu kurz."(7)

Welche Möglichkeiten also kann es für die Cyberdemokratie geben? In seinem Aufsatz „Auf dem Weg zur Cyberdemokratie?" (8) stellt Rainer Rilling ernüchternd fest: „das Netz ist unpolitisch".

Rilling kommt zu dieser Auffassung u.a. aufgrund einer qualitativen und quantitativen Analyse politischer Angebote und Inhalte des Informationsraumes WWW. Nach seiner Einschätzung dürfte der Anteil politischer Sites im WWW demnach bei 0,5 Prozent liegen. Auch im Usenet setzt sich diese Unterrepräsentierung fort.(9) Er kommt deshalb zu folgender Kategorisierung:

„1. Es dominieren Angebote / Projekte politischer Top-Down-Information und Propaganda bzw. des politischen Marketings - dafür steht das Gros parlamentarischer Web-Projekte; sodann gibt es

2. Projekte zur Rationalisierung politischer Kommunikation ('bürgernahe Verwaltung') mit bestenfalls konsultativem und legitimationsbeschaffendem Charakter.

3. Angebote / Projekte gesellschaftlicher Organisation von Politik (virtuelle Städte und Dörfer, Electronic Voting), die auf bottom-up-Meinungs- und Willensbildung zielen, sind demgegenüber mittlerweile zwar keineswegs irrelevant, aber deutlich minderrangiger und wohl auch mit weit geringerer Sichtbarkeit ausgestattet."(10)

Es wird deutlich, daß der IKT und den Computernetzen zwar ein demokratieförderndes Potential innewohnt (Information, Meinungsbildung und -äußerung durch Diskurs), aber eine direkte Diffusion des politischen und gesellschaftlichen Realraumes zur Zeit nicht stattfindet.

„Internet kann die heutige Krise der parlamentarischen Demokratie nicht lösen" (11) folgert der Medientheoretiker und Mitbegründer der digitalen Stadt Amsterdam Geert Lovink, und verweist damit auch auf den gesellschaftlichen Trend zur Entpolitisierung. Auch Herbert Kubicek, Leiter der Forschungsgruppe Telekommunikation an der Universität Bremen, sieht momentan keine bedeutenden Ansätze für eine Vitalisierung der Demokratie durch die Netze:

„Das Netz kann natürlich in allen gesellschaftlichen Bereichen Meinungen und Informationen transportieren. Eine Gesellschaft, die sich auch sonst eher regieren läßt, als aktiv an politischen Entscheidungen auf der kommunalen, Länder- oder Bundesebene teilhaben zu wollen, wird sich allein durch verbesserte Kommunikationsmittel nicht verändern, wenn die Menschen sie nicht nutzen. Unsere Gesellschaft befindet sich überdies im Moment eher in einem Prozeß der Entpolitisierung, als auf dem Weg zu einer größeren Politisierung."(12)

Weiter prognostiziert Kubicek für das Internet eine Entwicklung hin zu einem Medium, das sich den traditionellen Massenmedien annähert, weil es der kommerziellen Durchdringung - aus sich heraus, ohne entsprechende staatliche Intervention - nicht standhalten kann:

„Insgesamt ist die ganze Diskussion über das Internet etwas kurzsichtig, insofern sie das Internet, [...] als Phänomen und Struktur fortschreibt. Die Diskussionsforen, die am meisten Interaktivität ermöglichen, werden in der weiteren Entwicklung eine immer kleinere Rolle spielen. Wenn man in die Mediengeschichte schaut, dann waren am Anfang mit vielen Medien aufgrund interaktiver Möglichkeiten ähnliche Hoffnungen verbunden. Mit der Zeit haben sich dann aber massenmediale Nutzungsformen quantitativ durchgesetzt. [...] Die ökonomischen Kräfte werden auf eine Vermassung des Mediums Internet im Sinne solcher kommerziellen Anwendungen dringen. Wenn man sich anschaut, was Microsoft und andere machen, dann wird das deutlich. Man spielt Shows und ähnliches ab. [...] Das sind die ersten Anzeichen für den Einzug massenmedialer Nutzungsformen. Sie behindern technisch nicht die anderen, nur gibt es keine starken ökonomischen Kräfte, die diese freieren Nutzungsformen fördern." (13)

Die Diskussionen und Aktionen rund um die Rahmenbedingungen der gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Entwicklung hin zur Informationsgesellschaft (IG) spielen sich auf verschiedenen Ebenen ab.

Auf Bundes- und Länderebene existieren verschiedene Gremien, die an einer Fülle von Gesetzen und Gesetzentwürfen(14) beratend und entscheidend mitwirken.(15) Hierbei werden jedoch nicht in ausreichendem Maße die ebenfalls an einer Diskussion interessierten gesellschaftlichen Gruppierungen außerhalb wirtschaftlicher und politischer Lobbies berücksichtigt. Wünschenswert wäre eine deutlich breitere gesellschaftliche Diskussion und Beteiligung der public interest groups.

Zu diesen Gruppen zählen z.B. die breite Diskussionsbasis aus Politik-, Soziologie- und Kommunikationswissenschaftlern in der IMD (Initiative Informationsgesellschaft - Medien - Demokratie) mit ihren Publikationen und Kongressen, der CCC (Chaos Computer Club), FoeBuD (Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs e.V.) oder FIfF (Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung e.V.) und viele erfahrene Netzbewohner in den Newsgroups und Mailinglisten des Usenet.


(1) Das Forum Informationsgesellschaft wurde auf einen Beschluß der Europäischen Kommission vom Februar 1995 hin eingesetzt. „Ziel war die Schaffung eines neuen maßgeblichen Gremiums, das die Herausforderungen der Informationsgesellschaft reflektieren und erörtern und entsprechende Empfehlungen formulieren sollte." (Forum Information Society, Netzwerke für Menschen und ihre Gemeinschaften - Die Umsetzung der Informationsgesellschaft in der Europäischen Union. Erster Jahresbericht des Forums Informationsgesellschaft an die Europäische Kommission, Juni 1996, <http://www.ispo.cec.be/>

(2) Forum Information Society, Netzwerke für Menschen und ihre Gemeinschaften, 1996, <http://www.ispo.cec.be/>

(3) Forum Information Society, Netzwerke für Menschen und ihre Gemeinschaften 1996, <http://www.ispo.cec.be/>

(4) BMWi (Hg.), Info 2000 - Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft, Bericht der Bundesregierung, Bonn 1996

(5) Rilling, Rainer, Auf dem Weg zur Cyberdemokratie?, Vortrag auf dem Kongreß „Demokratie an der Schnittstelle. Neue Medien und politische Perspektiven" der Hessischen Gesellschaft für Demokratie und Ökologie e.V. (HGDÖ) am 07.12.1996 in Frankfurt, <http://staff-www.uni-marburg.de/~rillingr/bdweb/texte/cyberdemokratie-text.html>

(6) Die Initiative Informationsgesellschaft * Medien * Demokratie (IMD) wurde im Januar 1996 gegründet. In ihr arbeiten gegenwärtig ein Dutzend Gewerkschaften, Parteien und Verbände zusammen, die in die aktuelle Diskussion um die Informationsgesellschaft vor allem demokratie- und arbeitspolitische, sozialstaatliche und ökologische Aspekte einbringen wollen, <http://staff-www.uni-marburg.de/~rillingr/imd/imd1.html>. Die IMD unterhält auch eine eigene Mailingliste: IMD-L Informationsgesellschaft - Medien - Demokratie <IMD-L@VM.GMD.de>

(7) IMD, Hamburger Erklärung zur Informationsgesellschaft, <http://staff-www.uni-marburg.de/~rillingr/imd/imderkl.html>

(8) Rilling, Rainer, Auf dem Weg zur Cyberdemokratie?, Vortrag auf dem Kongreß „Demokratie an der Schnittstelle. Neue Medien und politische Perspektiven" der Hessischen Gesellschaft für Demokratie und Ökologie e.V. (HGDÖ) am 07.12.1996 in Frankfurt, <http://staff-www.uni-marburg.de/~rillingr/bdweb/texte/cyberdemokratie-text.html>

(9) „Nach WWW.Liszt.com gibt es momentan ca. 70.000 Mailing-Listen und etwa 16.000 Newsgroups. Auf das Stichwort 'politi*' gibt es am 30.11.1996 335 Nennungen [0,3 %], von denen dann noch etwa ein Drittel auf den akademischen Bereich entfällt.", Rilling, Rainer, Auf dem Weg zur Cyberdemokratie?, a.a.O.

(10) Rilling, Rainer, Auf dem Weg zur Cyberdemokratie?, a.a.O.

(11) Geert Lovink in einem Radio-Interview des Deutschlandfunks, Gesprächsreihe „Netzbewohner - Trends in der Informationsgesellschaft" vom 16.02.1997.

(12) Kubicek, Herbert im Gespräch mit Florian Rötzer über die demokratischen Potentiale des Internet, <http://www.heise.de/tp/deutsch/special/pol/8003/1.html>

(13) Kubicek, Herbert im Gespräch mit Florian Rötzer über die demokratischen Potentiale des Internet, a.a.O.

(14) Telekommunikationsgesetz, Mediendienstestaatsvertrag, Informations- und Kommunikationsdienstegesetz mit Teledienstegesetz, Teledienstedatenschutzgesetz, Signaturgesetz und Änderung des StGB und des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten

(15) Die Vielfalt der verschiedenen Gremien und beteiligten Institutionen kann im Bericht der Bundesregierung „Info 2000 - Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft" nachgelesen werden.


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